Angst und Orgien

Das Radio vermeldet eine Verdoppelung psychosomatischer Schwierigkeiten bei Kindern. Irgendein Hamburger Institut hat das ermittelt, was jeder weiss. Nach einem Hamburger wäre mir auch gerade. 

Bei den Menschen ist es wie bei den Meerschweinchen. Sie sind schlecht allein zu halten. Schlecht sind sie übrigens auch, aber das ist ein anderes Thema. Rechnet man dazu den Druck, unter dem Schüler stehen, ist klar, dass sie leiden müssen. 

Die meisten von ihnen haben genug gesunden Menschenverstand und dazu noch soviel Konditionierung verinnerlicht, dass sie wissen, was ihnen ohne Schulabschluss in dieser Gesellschaft blüht. Viele von ihnen werden ihr Leben lang unterbewusst Angst haben, sich an Menschen klammern, die sie nicht (genug) lieben, an Berufe, die Stabilität versprechen, an Rituale. 

Der Rest wird sich, wenn der Belagerungszustand erst aufgehoben wird, ins Leben stürzen wie ihre Urgrosseltern nach dem 2ten Weltkrieg. Über die Orgien der 50er und sogar der frühen 60er Jahren deckt die Demenz ihren grauen Schleier. Aber sie müssen dem Vernehmen nach beispielhaft gewesen sein. 

Wie gerne wäre ich dabei gewesen, wie gerne wäre ich dabei gewesen, als ich jung war, damals in den 80ern. Auch da gab es die eine oder andere Ausschweifung, wenn auch wohl nicht von gleicher Opulenz. 

Allein, ich bin wie die Kinder sein werden, die sich in zwanzig Jahren verzweifelt an einen manipulativen Partner, undankbare Kinder und einen unterdurchschnittlichen Job klammern werden, weil darauf zu verzichten hiesse, nichts zu haben, nichts ausser der Angst und einem Mobiltelefon. 

Schwarzwälder Kirsch ist aus

Eine Geburtstagsfeier bei Zoom ist genauso wie eine IRL, aber dann doch anders. Man verbringt also Zeit mit Leuten, von denen man die wenigsten kennt und niemanden mag, muss aber seine Getränke selbst bezahlen. Ausserdem gibt es keinen Kuchen, wenn man sich selbst keinen aus dem Kaufland mitbringt. Insgesamt überwiegen also die Nachteile. 

Ungeachtet dessen verbrachte ich gestern eine Stunde in einem solchen Meeting zur Feier des 60sten Geburtstages meiner Schwägerin. Die war denn auch die einzige, die das lustig fand, allerdings war sie schon auf Kosten ihres ehemaligen Lebensgefährtens recht abgefüllt. Ich hingegen musste die ganze Zeit Paulas Mobiltelefon so halten, dass wir beide im Fokus der Selfie-Kamera blieben. 

Wohlwissend, wie egal ich allen Beteiligten war, bemühte ich mich, Paula im Focus und mich soweit möglich am Rand zu halten, ein merkwürdiger Mann mittleren Alters mit zu langem Haar und einem leberwurstgrauen Shirt. 

Revolutionary Suicide Mechanised Regiment Band

Das Wohnzimmer heisst Wohnzimmer, weil man darin wohnt. Was auch immer das heissen soll, denn wohnen ist ja nicht nur fernsehen, sondern auch schlafen, kochen und essen, sodass auch Schlafzimmer, Küche und Essecke Wohnzimmer sind. 

Selbst wenn man den Begriff darauf verengt, dass man mit anderen zusammen (oder vorzugsweise doch ohne sie) fernsieht, ist der Begriff altmodisch. Fernsehen findet heute ja zunehmend online statt und kann damit unter Zuhilfenahme von Mobiltelefonen, Tablets, Computern und dediziert für das Fernsehen vorgesehenen Geräten auch in anderen Räumen konsumiert werden. 

Paula erledigt quasi all das Wohnen in unserem Wohnzimmer. Da sie nach ihrer Operation ihr Bett zu unbequem findet, hat sie das Schlafen dorthin ausgelagert, wo sie fernsieht, wenn ich nicht da bin. Und jetzt auch fernsieht, wenn ich da bin. Wir essen sogar wieder zusammen. Eine Verbesserung unserer Beziehung drückt sich da nicht aus, nur ihre Abhängigkeit von mir und meine Weigerung, stiften zu gehen. 

Es geht doch nichts über Deutschland

Ich überlege gelegentlich, sozusagen als geistige Fingerübung, wie es denn dem Herrn Marsalek gelungen sein könnte, den deutschen Behörden zu entschlüpfen. Das war wahrscheinlich gar nicht so schwierig, denn, seien wir ehrlich, die deutsche Polizei hat in den letzten Jahren nie geglänzt. Nur der gesetzestreue Bürger glaubt, dass an jeder Ecke ein Gendarm steht, der Schurke weiss es besser. 

Angeblich speiste er am Tag seiner Flucht noch mit einem ehemaligen österreichischen  Geheimdienstler und nahm dann eine Cessna Citation Mustang nach Minsk über Tallinn. Jedoch scheint mir das recht fraglich. Denn wer würde sich – und sein mühsam erspartes – dem russischen Geheimdienst ausliefern? Niemand hat je behauptet, dass die Mitglieder dieser Organisation zartbesaitet wären. Die haben Hornhaut auf der Seele und auf dem Abzugsfinger und einen unersättlichen Bedarf an Geld, gerne auch von der Sorte, über die man dem Minister keine Rechenschaft ablegen muss.  

Nein, da spricht dort viel für ein Land von ausgesprochener politischer Stabilität. Oder sollen wir sagen, eines, dessen Bewohner und Einrichtungen in ihrem Denken und Handeln festgefahren sind? Eines vielleicht gar, in dem es manchen Würdenträger gibt, die er als Mitarbeiter von Wirecard vorher geschmiert hat? Österreich könnte ihm eng werden. Das hat nur acht Millionen Einwohner. Gleich nebenan aber gibt es ein Land mit ähnlichen Eigenschaften und zehnmal soviel Bewohnern. 

So hat er vielleicht nur einen seiner Pässe, in Österreich darf man mehrere haben, per Düsenflieger nach Minsk geschickt, um ihn dort von einer Flugbesatzung mit ökonomischen Defiziten abstempeln zu lassen, während er auf der Flughafentoilette in Klagenfurt Outfit und Identität wechselte. Eine Identität ist mehr als nur ein Pass. Das ist das Sammelsurium an Karten, das man sonst noch so im Portemonnaie hat, der Führerschein, die Gesundheits- und die Kreditkarte, gerne auch einmal die Mitgliedskarte eines Vereins, die Rabattkarte eines Supermarktes. 

Mit frischer Identität, sie sollte nicht zu frisch sein, eine, die schon ein paar Jahre läuft, ist da besser, und neuer Sim-Karte versehen, könnte er mit dem Taxi zum Hauptbahnhof von Klagenfurt und von da mit dem Nachtzug nach Dortmund gefahren sein. Nach einer Nacht im Novum-Hotel dort brauchte er sich nur noch von seiner Frau abholen zu lassen. Denn es wäre ja höchst sonderbar, wenn ein Schurke wie der nicht jemanden hätte, der ihn liebt. 

Ich glaube, er war bei Wirecard erst nur der Schlattenschammes, das Mädchen für alles also, und dann der Schabbesgoy, der ohne Abitur unter all den Universitätsabsolventen, der sich der Geschäfte annimmt, die keiner in die Hand nehmen will. Und diese Geschäfte musste einer in die Hand nehmen. Allein mit legalen Transaktionen waren nämlich die Ziele des Unternehmens nicht zu erreichen. Da musste jemand das Geld von schmierigen Halunken bewegen, von Pornofirmen und Betrügern, Online-Casinos und anderen Geldwäschern. Das war der erste Schritt auf einer sehr, sehr schmierigen Rampe nach unten gewesen. Am Ende ist er mit geschätzten vier bis zehn Millionen entkommen. 

Klar, in den Medien ist von viel grösseren Zahlen die Rede. Aber erstmal ist die Buchhaltung, die er kreiert hat, chaotisch, zweitens ist manches, was er vorne rausgezogen hat, hinten wieder hineingegangen, und drittens ist einiges davon als “Sponsoring” der “Öffentlichkeitsarbeit” zugeflossen. Da gibt es sicher einige Politiker und Geheimdienstbeamte, die gar nicht so sehr daran interessiert sind, dass er gefunden wird. 

Also kann er jetzt, wenn er das möchte, die nächsten vierzig Jahre auf einem westfälischen Wasserschlösschen, in einer opulenten Villa mit eigenem Pool oder einem umgebauten Industriegebäude mit Dachterrasse ganz gemütlich leben. Morgens ein bisschen Golf, mittags frische Berliner und dann ein Ausflug mit dem Elektrofahrrad zum nächsten Netto. Man kann schlechter leben. 

Mein eigenes Lebensziel ist ja eher eine Existenz als einer dieser merkwürdigen alten Kerle, die völlig allein leben, und die man erst Wochen nach ihrem Ableben immer der Nase nach findet. Aber chacun à son guste, ich werfe da niemandem seinen Lebensstil vor. Schliesslich kann in Deutschland jeder leben, wie es ihm gefällt. 

Michael Kurland, The Last President, 1980

Kurland sees in his book of 1980 this kind of polarization as a major instrument for a coup against the US constitution. Sounds familiar, so as if someone most recently has done the same. It’s just divide et impera on a modern level.

Herrlich, herrlich, herrlich

Ich habe beschlossen, aus Paulas Krankenhaus-Aufenthalt das grösstmögliche Vergnügen zu ziehen. Die sechs Stunden, die das Krankenhaus für die Aufnahme am Tag vor der OP brauchte, widmete ich daher einem Podcast-Marathon. Sechs Stunden voller Mord, Verschwörung und Kannibalismus. Es war herrlich!

https://www.ardaudiothek.de/kein-mucks-der-krimi-podcast-mit-bastian-pastewka/giftmord-in-paris-bastian-pastewka-praesentiert-krimi-klassiker/82636608

Als nächstes fuhr ich in eine Stadt, die nur eine sogenannte ist. Sie ist also gross genug, um so genannt zu werden, und hat auch das für diesen Titel quasi notwendige Gymnasium und ein Schwimmbad. Aber davon abgesehen ist die Innenstadt weniger belebt als einer der acht Friedhöfe von Sunnydale. Ich habe das Gefühl, von diesen Städten gibt es in Deutschland jedes Jahr mehr. 

Im Edeka wollte ich mich mit allerlei Zeug eindecken, das ich sonst nicht, dafür aber ausgesprochen gerne esse. Schätzenswert ist bei diesem Unternehmen die klare Kommunikation. Mit einem Blick auf die Oberseite der Regale weiss man sofort, wo eine Warengruppe ist. Und mit einem Blick auf das Sortiment und die Preise weiss man ausgenblicklich, dass man im Netto gegenüber viel besser aufgehoben ist.

Jetzt habe ich einen Abend mit Pasta Arrabiata, Cola, Weingummi und Ostfriesentee vor mir. Ich werde es geniessen.